VERA LEUTLOFF

Galerie Neher 2002

DIE VERSCHIEDENEN BILDGRUPPEN BEI VERA LEUTLOFF

Vorbei

Vera Leutloffs Vorbei-Bilder bestehen aus übereinander gestaffelten Farbstreifen, die sich vertikal gegeneinander abgrenzen, horizontal jedoch rhythmisch von anderen Farbsequenzen durchdrungen werden. Der Betrachter fühlt sich insbesondere auch durch die Bildtitel in seinem Eindruck bestätigt, dass es sich um eine besondere Art der Darstellung beobachteter Realität handelt, da die Farbzusammenstellungen Assoziationen oder gar Erinnerungen an selbst Erlebtes oder Gesehenes wachrufen. Dabei thematisiert der Titel "Vorbei" das rasche Verwischen, das schnelle Vorüberziehen des Wahrgenommenen. Vera Leutloff fügt verschiedenfarbige Erinnerungshorizonte aneinander und macht aus der Aneinanderreihung zahlreicher subjektiv wahrgenommener Sinneseindrücke ein objektiv vermittelbares Seherlebnis. So verbinden sich die einzelnen momenthaften Farblandschaften zur einzigartigen und typischen Farbharmonie des jeweiligen Vorbei-Bildes.

Stangen

Vera Leutloffs Stangen wirken metallisch kalt und greifbar plastisch. Sie sind zu mehr oder weniger einfach durchschaubaren Strukturen miteinander verwoben, oder sie staffeln sich in nur schwer nachvollziehbarem Schema derart hintereinander, dass sie einen in seinen Dimensionen nicht fassbaren Raum zu bilden scheinen. Diese Raumwirkung wird vor allem durch das Licht hervorgerufen, das bei Vera Leutloff nicht aus einer bestimmten Richtung kommt, sondern jeder einzelnen Stange zu eigen ist. Jede Stange erstrahlt gleichermaßen frontal und in ihrer ganzen Länge in gleichmäßig starker Helligkeit. Auch werfen die Stangen keine Schatten – das Licht durchdringt Objekte und Raum. Dazu kommen fehlende Größen- und Farbperspektive. Alle Stangen erscheinen in Hinter- und Vordergrund gleich breit und trotz offenbar großer Entfernung ebenso farbintensiv. Als Betrachter erliegt man dem optischen Verwirrspiel: Raumtiefe oder Flächenmuster, Stangen oder Bänder? Der Blick irrt umher in einem irrealen Raum, in einer "parallelen Welt" (Vera Leutloff), die sich jenseits von allem Vertrauten befindet und in der man den Boden unter den Füßen zu verlieren glaubt.

Netze

Vera Leutloffs Netze sind eng mit den Stangen und den Vorbei-Bildern verwandt. Ihr Bildraum besteht aus vergrößerten Verläufen, die ebenfalls in vielen anderen Bildgruppen vorkommen. Dagegen handelt es sich bei dem Bildraum der Vorbei-Netze um zum Teil ausschnitthaft vergrößerte Vorbei-Bilder. In allen Netz-Bildern wird der Raum durchzogen von sich gespinstartig ausbreitenden "Fäden". Bei dieser Struktur handelt es sich nicht eigentlich um Linien, sondern um Pinselstriche, die in exakt ausgeführter Geste und unter hoher Konzentration den Bildraum dynamisch durchdringen. Dabei entsteht wiederum optische Verunsicherung, da beispielsweise die Stangenelemente sowohl als plastisch greifbare und feste Objekte wahrgenommen werden wie auch als sich öffnende, unendlich erscheinende sphärische Räume.

Gräser, Blätter und Stauden

Vera Leutloffs Pflanzen generieren sich in ganz ähnlicher Weise wie ihre Alpen allein aus der Geste und Dynamik des Pinselstrichs. Dies ist vor allem bei nahem Hinsehen nachvollziehbar, da der Farbauftrag durch die Pinselstruktur noch erkennbar ist – was von weitem übrigens den gegenteiligen Effekt einer organisch wirkenden Erscheinung erzielt. Alle Blattformen sind zudem in gleicher Frontalität zu sehen, Andersartigkeit, "natürliche" Abweichung kommt hier nicht vor. Alles "gedeiht" in zunehmend irritierender Gleichförmigkeit und Ebenmäßigkeit, unbeeinflusst durch äußere Umstände. Vera Leutlofffs irreale Pflanzenwelt offenbart am deutlichsten die Gemeinsamkeiten unserer Realität und ihrer künstlich geschaffenen "parallelen" Welt: Scheinbare Ordnung und rational kontrollierte Schöpfung bergen gleichermaßen Verunsicherung und Unfassbarkeit in sich wie die uns vertraut erscheinende chaotisch-reale Welt.

Alpen

Vera Leutloffs Alpen sind ebenso wenig abbildhaft wie ihre gegenstandslosen Stangen-, Netz- oder Vorbei-Bilder. Da sie jedoch auf den ersten Blick als Darstellungen realer Landschaften erscheinen, rufen sie bei weiterem Betrachten eine weitaus größere Fremdheit hervor: Lichtsituation und Perspektive sind nicht real, sondern synthetisch und ohne Luftperspektive mit der uns bekannten Unschärfe und den blasseren Farben in der Tiefe des Raumes. Das Auf und Ab der Bergstrukturen verläuft rhythmisch und ohne größere Brüche. Diese Berge sind nicht die Alpen, sondern von der Künstlerin malenderweise generierte Strukturen, die wir als Berge wiederzuerkennen vermeinen. Denn sie sprechen unsere Erinnerung an und führen uns zudem mit ihrem Titel in die Irre. Einmal dort gelandet, führt kein Weg aus dem Dilemma, aus dieser Falle unserer eigenen Assoziationen. Wie anders würde man diese Bilder wohl sehen, wenn man keine Berge kennen würde?

Eva Müller-Remmert / Ausstellungskatalog Galerie Neher 2002

 

ICH SEHE ETWAS UND ERKENNE DEN FARBRAUM

Zu den Gemälden von Vera Leutloff

Vera Leutloffs Bilder fordern heraus. Diese präzise Malerei gibt uns Betrachtern bisweilen Zweifel, an das zu glauben, was wir tatsächlich auf den Bildern sehen. Wie das, wird man fragen. Liegt hierin nicht etwa ein Widerspruch? Man sieht doch so etwas wie Landschaften, Gräser, Stangen oder Berge. Zudem existieren gleichfalls Bildtitel, wie "Japanischer Garten", "Hecke", oder auch "St. Moritz".

Seit nunmehr 15 Jahren führt die Künstlerin Bilduntersuchungen durch, die schon zu Beginn ihrer professionellen Tätigkeit irritiert haben. 1988 schrieb Claus Peukert anlässlich einer Einzelausstellung im Palais Rastede, dass man in den damaligen Werken der Künstlerin keine Landschaftsmalerei im traditionellen Sinn vor sich habe. Vera Leutloffs Lehrer, Alfonso Hüppi, äußerte sich in einer kurzen Stellungnahme anlässlich des Annemarie- und Will-Grohmann-Stipendiums 1990 mit folgenden Worten: "Zu kalt, zu 'clean', meinen die einen, zu aggressiv die anderen. Mir scheint, es ist das Licht, das die Geister scheidet. Es gibt in den Bildern Vera Leutloffs kein gnädiges Dunkel, keine Nische des Verweilens für die brave Phantasie. Was da ist, ist auch klar zu sehen, wird nicht heimlich doch noch beschworen. Grün-blau-weißes Licht: Da fehlt dem Nachtsüchtigen die rote Funzel."

Während in diesen Jahren tatsächlich der Anteil einer – wie auch immer gearteten – Landschaftsmalerei relativ hoch war, führten die malerischen Operationen in den letzten Jahren die Künstlerin zu anderen Horizonten. Diese Ausstellung präsentiert fünf Werkgruppen, die als Quintessenz der bisherigen Arbeit verstanden sein möchten: Alpen, Gräser-Blätter-Stauden, Stangen, Netze und Vorbei-Bilder. Eine Malerei, in der figurative Elemente mit gleichem Anspruch zu finden sind wie abstrakte. Zu dieser Erkenntnis kommt man unweigerlich bei der ersten Durchsicht von Ausstellung und Katalog. Doch ist dies nicht alles.

Diese Frage muss gestellt werden: Was haben diese Bilder, die sich (äußerlich) in fünf Werkgruppen zusammenfassen lassen, miteinander gemeinsam? Wo liegt ihr größter beziehungsweise kleinster gemeinsamer Nenner? Was verbindet das eine mit dem anderen?

Vera Leutloffs bildnerische Arbeit ist zunächst keinesfalls auf die Hervorbringung von Landschaften oder ähnlichem gerichtet. Ihre Arbeit am Bild ist nicht zu verstehen als ein Herauslösen einer bestimmten Form aus der Welt der Erscheinungen. Die Künstlerin arbeitet an einer präzisen Form von Bild, so abstrakt dies auch klingen mag. Es geht ihr um die Realisierung von Malerei, ganz gleich ob hierin der figürliche Anteil überwiegen mag oder nicht. Diese Bilder sind nichts anderes als Inszenierungen von Malerei. Wenn Assoziation an Stauden, Gräser oder Berge beim Betrachter entstehen, so sind diese ohne Zweifel wahr. Allerdings fordert die Malerin ein intensives Hinschauen auf das "Motiv". Eine genauere Sicht auf ein vermeintliches Alpenmotiv zeigt, dass die "Landschaft" eine äußerst konstruierte ist. Hier existiert keine Luftperspektive. Alles ist gleich scharf oder unscharf gemalt, es gibt keinerlei Hinweise auf Entfernungen, und es gibt keinerlei Verweise zu der romantischen Malerei eines Caspar David Friedrich, wie mancher Interpret gesehen haben will. In diesen Bildern ist das Thema "Alpen" lediglich eine Formel, im bestimmten Sinne auch eine Sehfalle, eigentlich handelt es sich doch um ein abstraktes Werk.

In den landschaftlich gestimmten Bildern Vera Leutloffs ist die Forderung von Paul Cézanne, Malerei sei "eine Kunst parallel zur Natur" auf die Spitze getrieben. Nicht Natur, sondern parallel zur Natur; nicht abgemalte Einfältigkeit, sondern Meisterschaft des Zusammenfassens, also Essenz. Vera Leutloffs Landschaftsthemen, so unpräzise dieser Begriff auch sein mag, sind Essenz von Landschaft und Landschaftsillusion. In diesem Sinne gilt es, diese Bilder auch mit einer philosophischen Kategorie, nämlich als "Inbegriff-Bilder" zu bezeichnen, als Artefakte, die Zusammengesetztheit besitzen.

Auch bei den Werkgruppen der Stangen oder Vorbei-Bilder wird dies deutlich: Dieser Malerei ist eine Hermetik, eine Dichte inne, die in der zeitgenössischen Malerei selten zu finden ist. Es mag vielleicht vermessen klingen: Bezüglich ihrer Intensität lassen sich die Werke Vera Leutloffs durchaus mit den "Carceri d´Invenzione" eines Piranesi vergleichen. Diese 1745 entstandene Radierfolge imaginärer Architekturprospekte mit Kerkern, Gängen und Treppen weist ein irrationales System auf, welches in der Realität eigentlich keine Entsprechung hat. Es ist eine künstliche und abstrakte Welt, die dem Auge sehr greifbar erscheint.

Vera Leutloffs Bilder sind abstrakt wie konkret gleichzeitig. Der gemeinsame Nenner aller bisher entstandenen Werkgruppen ist der malerische Farbraum, den die Künstlerin für sich definiert. Ihre Farben wirken weniger sinnlich oder emotional als in einer illusionistischen Kunst. Sie mögen in dem einen oder anderen Bild sogar kühl erscheinen, allein ihrer Ausdrucksdimension kann dies nichts anhaben. An diesen Bildern geht man nicht vorbei, im Gegenteil: Eine fast magische Anziehung fordert den Betrachter auf, aus der Nähe zu schauen. Hier wird einem gewahr, dass diese Bilder eine spezifische Technik innehaben. Vera Leutloffs Malerei ist eng verbunden mit den Möglichkeiten, die ihr die Ölfarbe gewährt. Ihre bisweilen halsbrecherischen malerischen Operationen, ihr "Farbenziehen" von einer Stelle zur anderen, um hier ein Leuchten, da ein Verdunkeln hervorzubringen, offenbaren eine Technik, die alle Möglichkeiten ausschöpft.

Der Reichtum dieser Bilder besteht in ihrer komplexen Struktur. Jedes Bild wird streng erarbeitet, jedem Bild liegt ein spezifischer Gedanke zugrunde. Die Welt wird in Farben gesehen.

Tayfun Belgin / Ausstellungskatalog Galerie Neher 2002