VERA LEUTLOFF

Kunstmuseum Reutlingen | konkret 2020

Vera Leutloff – „Stangen: Verlauf: Limonaia“, 2016,
Öl auf Leinwand, 140 x 140 cm

Vera Leutloff – „Stangen: Verlauf: Limonaia“, 2016 Foto: Holger Kube Ventura

Die Malerin Vera Leutloff (geb. 1962) hat sich während ihres Studiums an der Kunstakademie Düsseldorf und als Meisterschülerin von Alfonso Hüppi intensiv mit Möglichkeiten der Darstellung von Landschaft beschäftigt. Schon Ende der 1980er-Jahre ließ sie dabei in ihren Szenerien abstrakte Elemente auftauchen: „es sprießen technische Versatzstücke aus dem Boden. Röhren, Kabel, Schläuche, Stangen. Das Franzosenkraut der Zivilisation als Verfremdungselemente, oder sichtbare Teile eines großen Stützmechanismus, ohne den die Natur nicht weiter zusammenhielte?“ (Hellmut Strobel).1 Noch dominierten solche Elemente nicht die Naturdarstellungen, die sich bei näherer Betrachtung allerdings ebenfalls schon als höchst abstrakte Schlieren und Tupfungen aus stets kalten Farben erwiesen und um 1990 zunehmend in den Bild-Hintergrund gerieten. Hüppi schrieb dazu: „Hinter stahlfarbenem Gestänge breitet Vera Leutloff die Künstlichkeit ihrer Landschaft aus: mit dem Frotteetuch hingequetschte Bäume und Sträucher, glattgestrichene Seen, heißer Himbeersaft auf Eiskugeln. […] gefeiert wird die Malerei.“2

Bald darauf wurden Leutloffs Bilder ornamentaler3 und erschienen als „ein Spiel mit dem romantischen Denken“, wie die Kunstjournalistin Helga Meister 1995 beschrieb: „Ständig präsentiert Vera Leutloff Ideallandschaften und entzieht sie wieder. Die Motive sind so perfekt, so symmetrisch, so wohlkalkuliert auf die Leinwand gesetzt, daß sie viel Ähnlichkeit mit der Brillanz und Unnahbarkeit von Computerbildern bekommen.“4 Ab etwa Mitte der neunziger Jahre entstanden Berg-Panoramen, deren Tiefenstaffelung in übersättigten Farben wie rechnergenerierte Prozesse aussehen, sowie Landschaftsabstraktionen in Form von horizontal gestapelten Stangen in kontrastreichen Farbverläufen.5 Wer frühere Arbeiten von Leutloff nicht kennt, wird ihre seitdem entstandenen Bilder wohl kaum noch auf reale Landschaften zurückführen: Streifenschichtungen, Geflechte, Quadratraster, sich überlagernde Ringe oder Bögen, oder asymmetrische Gitterstrukturen aus Stäben oder Stangen beherrschen nun die Kompositionen, die aber dennoch in erster Linie Farbräume herstellen. Die Bilder zeigen „nicht farbige Landschaft, sondern Landschaft aus Farbe“ und sind „räumliche Labyrinthe ohne Anfang und Ende“ (Kurt Jauslin).6

Mit einer über Jahrzehnte verfeinerten Maskierungstechnik lässt Vera Leutloff die Kompositionselemente auf ihren Bildern durch sukzessives, beidseitiges Abkleben entstehen.7 Nachdem etwa eine „Stange“ von Klebestreifen isoliert und mit der ersten Farbe bemalt ist, werden weitere Farben in beiden Richtungen über den noch feuchten Untergrund gezogen, um partielles Leuchten und Verdunkeln hervorzubringen. „So trägt der Pinsel die Farbe von einem zum nächsten Farbabschnitt und es entstehen verblüffende Übergänge und feine Schattierungen, die das zunächst bedachte und überlegte Muster auflösen und unvorhersehbar machen“ (Jürgen Spiess).8 Da sich solche Farbverläufe nur mit langsam trocknender Ölfarbe erzielen lassen, verwendet Leutloff keine anderen Malfarben.

Bei ihrem Bild Stangen: Verlauf: Limonaia (2016) besteht die oberste Lage der Schichtung aus zwei eher vertikal und zwei eher horizontal ausgerichteten Stangen. Darunter stellen vier Stangen eine quadratische Rahmung des Bildes her und in tieferen Lagen scheinen weitere den Bildraum sukzessive zu verengen und den Blick ins Zentrum zu ziehen. Tatsächlich ist auf dem gesamten Bild nichts anderes außer Stangen zu sehen, die wie beim Geschicklichkeitsspiel Mikado übereinandergelegt sind. Sie produzieren Plastizität, gerichtete Bewegung und Geschwindigkeit. Erst aus der Nähe betrachtet lösen sie sich in Pinselstriche auf. In der Ausstellung Gläserne Härten kommt dieser Effekt besonders deswegen zum Tragen, weil man sich dem in einer langen Flucht hängenden Bild über eine Distanz von vierzig Metern nähern kann.

Trotz seines konstruktiv lesbaren Aufbaus hat das Bild keine nachvollziehbare Lichtführung. Stattdessen besitzt jede Stange ihr eigenes inneres Licht und stellt sich bei genauerer Betrachtung nicht als geometrischer Körper, sondern als pure, gezogene Farbmaterie heraus, deren Kontur kein Resultat aufgetragener Linien ist. „Die Formengebilde sind die Bühne für das, was Farbe und Bewegung machen“, sagte die Künstlerin dazu.9 Trotz ihrer unterschiedlichen Lage weiter oben oder unten in der Schichtung wurden alle Stangen gleichwertig behandelt. Die Kuratorin Eva Müller-Rennert stellte heraus: „[Jede] erstrahlt gleichermaßen frontal und in ihrer ganzen Länge in gleichmäßig starker Helligkeit. Auch werfen die Stangen keine Schatten – das Licht durchdringt Objekte und Raum. Dazu kommen fehlende Größen- und Farbperspektive. Alle Stangen erscheinen in Hinter- und Vordergrund gleich breit und trotz offenbar großer Entfernung ebenso farbintensiv.“10 Und alle sind durch eher unangenehme Farbkontraste charakterisiert, etwa wenn Rostrot ins Weiß verläuft, Zitronen- mit Sonnengelb konkurriert, Blassgelb vergraut oder Hellviolett auf schmutziges Graugrün trifft. So zeigt dieses Bild trotz seines zunächst leicht begreifbaren Aufbaus einen in jeder Hinsicht verunsichernden Zustand beziehungsweise eine sehr ungewisse Szenerie.

Vera Leutloff gibt ihren Bildern (die nie seriell sind, aber immer bestimmten Grundtypen zugeordnet werden können) richtungsweisende, meist dreiteilige Titel. Sie berichten von der Kombination verschiedener Faktoren: Der erste Teil nennt das motivische Element (beziehungsweise die malerische Struktur), der zweite nennt die malerische Methode und der dritte ein farbliches Assoziationsfeld – so etwa bei Titeln wie Moment: Verlauf: Limonaia oder Kreise: Horizont: Jagd. Für die Künstlerin sind sie „lautmalerisch und besitzen einen Bezug zu der Atmosphäre.“11 Und tatsächlich mag das in Gläserne Härten präsentierte Bild auch an ein Erlebnis in einem Zitronengewächshaus (Limonaia) erinnern. Nichtsdestotrotz zeigt und besteht es aus nichts anderem als Farbe, die hier das Medium für visuell erfahrbare Räumlichkeit ist. Ähnliches mag für Vera Leutloffs Produktionen auf dem Feld der elektronischen Musik gelten: Sie komponiert „autarke Strukturen, die in Schichtungen ineinander verwoben sind“ (Tayfun Belgin)12 und akustisch erfahrbare Räumlichkeit erzeugen.

Holger Kube Ventura
Gläserne Härten. Konkrete Kunst als Medium
Kunstmuseum Reutlingen | konkret, 2020


  1. Hellmut Strobel, in: Kunst- und Kulturkreis Rastede (Hg.): Vera Leutloff – Malerei. Rastede, 1988, S. 1.
  2. Alfonso Hüppi, in: Staatliche Kunsthalle Baden-Baden (Hg.): Vera Leutloff. Baden-Baden, 1990, o. A.
  3. Vgl. Villa Romana Florenz (Hg.): Kunstpreis Villa Romana Florenz 1991. Florenz, 1991, S. 17–26.
  4. Helga Meister: „Vera Leutloff – ‚Aussichten‘“, Kunstforum International (Ruppichteroth), Bd. 130: „Malerei: Folge I“, 1995, kunstforum.de/artikel/vera-leutloff/
  5. Vgl. Freunde und Förderer des Museums der Stadt Ratingen und Ralph Kleinsimlinghaus (Hgg.): deep river. Ratingen, 2005, S. 38–43, deep-river.org/kuenstler/leutloff/1seite/1seite.html
  6. Kurt Jauslin: „Spannende Kunst-Rätselbilder“, nordbayern.de/region/erlangen/spannende-kunst-ratselbilder-1.789961
  7. Vgl. Noemi Smolik: „Wenn Bilder zu reden beginnen…“, in: Villa Goecke Ralph Kleinsimlinghaus und Artax Kunsthandel (Hgg.): Vera Leutloff. Absolue. Krefeld, Düsseldorf, 2009, S. 10.
  8. Jürgen Spiess: „Das letzte Licht des Tages“, swp.de/suedwesten/staedte/reutlingen/das-letzte-licht-des-tages-22072159.html
  9. Vera Leutloff, esslinger-zeitung.de/inhalt.buehne-fuer-farbe-und-bewegung.1f665028-6a5e-4a23-a408-2225ee2043bd.html
  10. Eva Müller-Remmert, vera-leutloff.de/galerie_neher_2002.html
  11. Vera Leutloff, rp-online.de/nrw/staedte/krefeld/krefeld-vera-leutloff-zeigt-raeume-ohne-licht-und-schatten_aid-34191851
  12. Tayfun Belgin: „Vera Leutloff: Feldforschungen zur Malerei“, Artax Kunsthandel, Galerie Maas, Osthaus Museum (Hgg.): Vera Leutloff. Limonaia, Nordlicht, Seegrün und Crimsonrot. Düsseldorf, Reutlingen, Hagen, 2020, S. 6.